Die Glocke

„Sobald die Kirchturmglocke läutet, beginnt ein einzigartiger Moment.“

Seine schönsten Momente, die lebenswichtigen Einschnitte in seinem Leben, werden doch zu einem hohen Prozentsatz an diesem Ort erfahren: Die Kirche. Sei es die Taufe, die Konfirmation oder auch die Hochzeit. Gewiss, die Kirche hätte so einiges zu erzählen. Und auch das Läuten der Kirchenglocke übernimmt eine wichtige Rolle in unserem Leben. Sagt sie uns doch an, wann wir nach Hause gehen müssen, wie spät es ist oder ob ein Gottesdienst beginnt.

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Die Glocke

von Hans Christian Andersen

Abends in den schmalen Straßen der großen Stadt, wenn die Sonne unterging und die Wolken oben wie Gold zwischen den Schornsteinen glänzten, hörte häufig bald der Eine, bald der Andere einen sonderbaren Laut, gerade wie der Klang einer Kirchenglocke. „Nun läutet die Abendglocke,“ sagt man, „nun geht die Sonne unter!“
Die, welche außerhalb der Stadt wandelten, wo die Häuser weiter voneinander entfernt lagen, die sahen den Abendhimmel noch prächtiger und hörten den Klang der Glocke weit stärker. Es war, als käme der Ton von einer Kirche, tief aus dem stillen, duftenden Walde; und die Leute blickten dorthin und wurden ganz andächtig.
Nun verstrich längere Zeit; der eine sagte zum anderen: „Ob wohl eine Kirche da draußen im Walde ist? Die Glocke hat doch einen eigentümlich herrlichen Klang! Wollen wir nicht hinaus und sie uns näher betrachten?“ Und die reichen Leute fuhren und die Armen gingen; aber der Weg wurde ihnen so erstaunlich lang, und als sie zu einer Menge Weidenbäume kamen, die am Rande des Waldes wuchsen, da lagerten sie sich dort und blickten zu den langen Zweigen hinauf und glaubten, dass sie nun recht im Grünen seien. Der Konditor aus der Stadt kam hinaus und schlug sein Zelt auf. Drei Personen versicherten, dass sie in den Wald eingedrungen seien, bis dahin, wo er Ende; und sie hätten immer den sonderbaren Glockenklang gehört; aber es sei ihnen dort gerade gewesen, als wenn er aus der Stadt käme. Der Eine schrieb ein ganzes Lied davon und sagte, dass die Glocke wie die Stimme einer Mutter zu einem lieben, klugen Kinde klänge; keine Melodie sei herrlicher, als der Klang der Glocke.
Der Kaiser des Landes wurde auch aufmerksam darauf und versprach, dass der, welcher wirklich ausfindig machen könne, woher der Schall komme, den Titel eines „Weltglöckners“ haben solle, und das sogar, wenn es auch keine Glocke sei.
Nun gingen viele nach dem Walde; aber es war nur Einer, der mit einer Art Erklärung zurückkehrte. Keiner war tief genug eingedrungen, und er auch nicht; aber er sagte doch, dass der Glockenton von einer sehr großen Eule in einem hohlen Baume herkomme; es sei so eine Weisheitseule, die ihren Kopf fortwährend gegen den Baum stieße; aber ob der Ton von ihrem Kopfe oder von dem hohlen Stamme käme, das konnte er noch nicht mit Bestimmtheit sagen. Er wurde als Weltglöckner angestellt und schrieb jedes Jahr eine kleine Abhandlung über die Eule; man ward dadurch eben so klug, wie man vorher gewesen.


Nun war gerade ein Einsegnungstag. Der Prediger hatte so schön und innig gesprochen; die Konfirmanden waren so tief bewegt gewesen; es war ein wichtiger Tag für sie: sie wurden aus Kindern mit einem Male zu erwachsenen Menschen, die Kinderseele sollte nun gleichsam in eine verständigere Person hinüberfliegen. Es war der herrlichste Sonnenschein; die Konfirmanden gingen zur Stadt hinaus, und vom Walde her erklang die große, unbekannte Glocke ganz besonders stark. Sie bekamen sogleich Lust, dahin zu gehen, und zwar alle, bis auf drei. Die Eine von diesen wollte nach Hause und ihr Ballkleid anprobieren, denn es war gerade das Kleid und der Ball, welche Schuld daran waren, dass sie dieses Mal eingesegnet worden war, sonst wäre sie nicht mitgekommen; der Zweite war ein armer Knabe, welcher seinen Konfirmationsrock und die Stiefeln vom Sohne des Wirthes geliehen hatte, und die musste er zur bestimmten Zeit zurückliefern; der Dritte sagte, dass er nie nach fremden Orten ginge, wenn seine Eltern nicht mit wären, und dass er immer ein artiges Kind gewesen, und das wolle er auch bleiben, selbst als Konfirmand, und darüber solle man sich nicht lustig machen! – Aber das taten sie doch.
Drei von ihnen gingen also nicht mit, die Andern trabten davon.

Aber bald ermüdeten zwei der Kleinsten und kehrten um und gingen wieder zur Stadt; zwei kleine Mädchen setzten sich und banden Kränze; die kamen auch nicht mit. Und als die Andern die Weidenbäume erreichten, wo der Konditor wohnte, da sagten sie: „Nun sind wir hier draußen; die Glocke existiert ja doch eigentlich nicht; sie ist nur Etwas, was man sich einbildet!“
Da ertönte plötzlich tief im Walde die Glocke so schön und feierlich, dass vier oder fünf sich entschlossen, doch noch weiter in den Wald hineinzugehen. Der war so dicht, so belaubt! Es war ordentlich beschwerlich, vorzudringen. Aber für Mädchen war es kein gangbarer Weg: sie würden sich die Kleider zerrissen haben. Das frische Quellwasser sprudelte hervor, und wunderbar tönte es, gleichwie „Kluck, Kluck!“
„Das ist wohl noch nicht die Glocke!“ sagte einer der Konfirmanden, und legte sich nieder und horchte. „Das muss man ordentlich studieren!“ Da blieb er und ließ die Andern gehen.
Sie kamen zu einem Hause aus Rinde und Zweigen; ein großer Baum mit wilden Äpfeln streckte sich darüber hin, als wollte er seinen ganzen Segen über das Dach ausschütten, die langen Zweige lagen gerade um den Giebel her und an diesem hing eine kleine Glocke. Sollte es die sein, die man gehört hatte? Ja, darin stimmten Alle überein, bis auf Einen; dieser sagte, dass die Glocke zu klein und fein sei, als dass sie in solcher Entfernung gehört werden könne, wie sie sie gehört hatten, und es ganz andere Töne wären, die ein Menschenherz so rührten. Der, welcher sprach, war ein Königssohn, und da sagten die Anderen, so einer wolle immer klüger sein.
Deshalb ließen sie ihn allein gehen; und wie er ging, wurde seine Brust mehr und mehr von der Einsamkeit des Waldes erfüllt; aber noch hörte er die kleine Glocke, über die sich die Anderen so freuten. Nun raschelte es im Busche, und da stand ein kleiner Knabe vor dem Königssohne, ein Knabe in Holzschuhen und mit einer zu kurzen Jacke. Sie kannten einander; der Knabe war gerade derjenige von den Konfirmanden, der nicht hatte mitkommen können, weil er nach Hause musste, um Rock und Stiefeln an des Wirthes Sohn abzuliefern. Das hatte er getan und war dann in Holzschuhen und mit den ärmlichen Kleidern allein fortgegangen; denn die Glocke klang so stark, so tief: er musste hinaus.

„Wir können ja zusammen gehen!“ sagte der Königssohn. Aber der arme Konfirmand mit den Holzschuhen war ganz verschämt. Er zupfte an den kurzen Ärmeln der Jacke und sagte: er fürchte, er könne nicht so rasch mitkommen; überdies meine er, dass die Glocke zur Rechten gesucht werden müsse, denn den Platz habe ja alles Große und Herrliche.
„Ja, dann begegnen wir uns gar nicht!“ sagte der Königssohn und nickte dem armen Knaben zu, der in den tiefsten Teil des Waldes hineinging, wo die Dornen seine ärmlichen Kleider entzwei und Antlitz, Hände und Füße blutig rissen. Der Königssohn erhielt auch einige tüchtige Risse, aber die Sonne beschien doch seinen Weg, und er ist es, dem wir nun folgen, denn er war ein flinker Bursche.
„Die Glocke will und muss ich finden!“ sagte er, „und wenn ich auch bis ans Ende der Welt gehen muss. „Ringsum die schönsten grünen Wiesen, wo Hirsch und Hündin im Grase spielten, wuchsen prächtige Eichen und Buchen; und war einer der Bäume in der Rinde gesprungen, so wuchsen Gras und lange Ranken in den Spalten; da waren auch große Waldstrecken mit stillen Landseen, worin weiße Schwäne schwammen und mit den Flügeln schlugen.
Der Königssohn stand oft still und horchte; oft glaubte er, dass von einem dieser Seen die Glocke zu ihm herauf klang; aber dann merkte er wohl, dass es nicht daher käme, sondern dass die Glocke noch tiefer im Walde ertöne.
Nun ging die Sonne unter; die Luft erglänzte rot wie Feuer; es wurde so still und er sank auf seine Knie, sang sein Abendlied und sagte:
„Nie finde ich, was ich suche! Nun geht die Sonne unter, nun kommt die finstere Nacht. Noch einmal kann ich die Runde, rote Sonne vielleicht noch sehen, ehe sie an dem Horizonte verschwindet: ich will dort auf die Felsen hinaufsteigen; ihre Höhe erreicht die der höchsten Bäume!“
Und er ergriff nun Ranken und Wurzeln und kletterte an den nassen Steinen empor- aber hinauf kam er, bevor die Sonne, von dieser Höhe gesehen, ganz untergegangen war.
O, welche Pracht! Das große, herrliche Meer, welches seine langen Wogen gegen die Küste wälzte, streckte sich vor ihm aus, und die Sonne stand wie ein großer, glänzender Altar da draußen, wo Meer und Himmel sich begegneten; Alles schmolz in glühenden Farben zusammen; der Wald und das Meer sang und sein Herz mit.
Die ganze Natur war eine große, heilige Kirche, worin Bäume und schwebende Wolken die Pfeiler, Blumen und Gras die gewebte Samtdecke und der Himmel selbst die große Kuppel bildeten; dort oben erloschen die roten Farben, indem die Sonne verschwand; aber Millionen Sterne wurden angezündet; es glänzten Millionen Diamantlampen, und der Königssohn breitete seine Arme aus gegen den Himmel, gegen das Meer und gegen den Wald.
Da kam plötzlich, von dem rechten Seitenwege, der arme Konfirmand mit den kurzen Ärmeln und den Holzschuhen, er war hier ebenso zeitig angelangt; er war auf seinem Wege dahin gekommen.
Und sie liefen einander entgegen und fassten einander an die Hand in der großen Kirche der Natur und der Poesie. Und über ihnen ertönte die unsichtbare, heilige Glocke: selige Geister umschwebten sie im Tanze zu einem jubelnden Halleluja!
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Aufgabe

In der Kirche gibt es viel zu entdecken. Zähle beim nächsten Besuch doch mal, wie viele Orgelpfeifen zu sehen sind. Oder wie viele Schritte du von ganz hinten bis ins Kirchenschiff gehen musst. Wie viele Sitzbänke sind vorhanden? Wie hoch ist wohl der Kirchturm? Findest du alte Inschriften? Was bedeuten diese wohl? Du kannst auch online der 600 Jahre alten St. Mauritius Kirche einen Besuch abstatten.

https://kirchengemeinde-hardegsen.wir-e.de/digitale-kirchenfuehrung-st-mauritius

Was die Kirche schon so alles erlebt hat...

Die Kirche
Der Bau der Sankt Mauritius Kirche ist im Jahre 1423 ist von Herzogin Margarete von Braunschweig veranlasst worden. 
Um die Entstehung der Kirche rankt sich die Legende, dass Herzogin Margaretes 1394 im Kirchenbann verstorbener Gatte Otto „der Quade“ sein Seelenheil nur wiedererlangen könne, wenn sie für ihn und ihre Seele Buße tue. 
Wir können vermuten, dass der Bau unserer heutigen Mauritius Kirche ein Teil ihrer Buße war, zumal es als sicher gilt, dass an gleicher Stelle bereits eine Kirche gestanden hat, die aber zu Margaretes Lebzeiten schon baufällig war.

Die Edskes-Orgel 
ist benannt nach ihrem Erbauer, dem holländischen Orgelbauer Bernhardt H. Edskes, aus Wohlen in der Schweiz. Die gesamte Orgel ist vollständig aus Holz gebaut, nicht einmal Schrauben oder Nägel wurden verwendet. 
Am Pfingstsonntag, 26. Mai 1996, wurde sie geweiht.

Mit dem Glockenschlag durchs Leben

So wie mir geht es bestimmt allen, die in der Hardegser Altstadt aufgewachsen sind: Seit ich denken kann, höre ich den Glockenschlag der St. Mauritiuskirche. Oder vielmehr, ich höre ihn nur, wenn ich  darauf achte, sonst ist er Teil der Welt wie Sonne und Wind, wie Frühling und Herbst.

Als Kind war ich krank mit Masern, hohes Fieber, lag im Bett, tagelang. War zum Lesen zu klein, zum Aufstehen zu schlapp. Dämmerte vor mich hin. Aber zählen konnte ich schon und begriff, dass die Glockenschläge wohl etwas mit Zeit zu tun hatten: Ein Schlag für viertel, zwei Schläge für halb, drei Schläge, vier Schläge. Dann die Stundenschläge in tieferem Klang.

Gespielt haben wir Kinder damals auf der Stubenstraße, der Hohen Straße, Am Plan. Roller fahren, Seilspringen oder Hinkelhäuschen mit Kreide gemalt. Keiner von uns hatte eine Uhr. Aber zum Abendbrot kurz nach sechs waren alle pünktlich; die Kirchenglocke hatte uns nach Hause geschickt.

Jahre später die Katastrophe: ein Trauerfall in der Familie, völlig überraschend, viel zu früh. In den ersten Nächten habe ich kaum geschlafen. War verloren, wie betäubt. Doch in all der Verzweiflung gab es einen vertrauten Klang: alle Viertelstunde der Glockenschlag der Kirche. Die Zeit vergeht, ich kann es hören. Bald wird es wieder hell.

Als Jugendliche haben wir abends an der Burg gesessen, im Dunkeln erzählt und gekichert. Um elf Uhr sollten wir zu Hause sein. Na gut, mit dem Stundenschlag sind wir losgelaufen, das ging dann gerade noch so in Ordnung.

So zieht sich der Klang durchs Leben: Beim Schwimmen im Freibad oder spazierend durch den Kurpark, schnelles Eilen zu einer Verabredung oder stilles Verweilen auf einer Bank im Sonnenschein. Egal, ob man keine Uhr zur Verfügung hat oder einfach die Augen schließt. Ob man in froher Stimmung ist oder vor Sorgen nachts wach liegt. Etwas ist immer da und gibt den Takt Tag für Tag: alle Viertelstunde der Glockenschlag der St. Mauritiuskirche.

Sabine Hirte

 

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